Verdacht auf Körperverletzung bei 88 Bewohnern der Seniorenresidenz Schliersee

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BR-Recherche zeigt: Heimaufsicht des zuständigen Landratsamts ging Beschwerden teils nicht nach

In der Seniorenresidenz Schliersee sind Bewohner offenbar über Jahre vernachlässigt worden. Die Staatsanwaltschaft München II ermittelt wegen Körperverletzungsdelikten bei 88 Bewohnern und prüft 17 Todesfälle. Senioren könnten verhungert sein. Nach einer Mail einer anonymen Informantin recherchierten Reporterinnen des Bayerischen Rundfunks monatelang. Die BR-Recherchen zeigen: Die zuständige Heimaufsicht im Landratsamt Miesbach nahm nicht alle Beschwerden über die Seniorenresidenz Schliersee auf und ging ihnen zum Teil nicht nach. Der BR berichtet über den Fall heute in seinen Programmen und auf BR24.

Wie Angehörige von ehemaligen Bewohnern und Ex-Mitarbeiter dem Bayerischen Rundfunk geschildert haben, verwahrlosten Senioren in dem Heim am Schliersee. Ein Ex-Bewohner sagt, er habe um jede Hilfe „betteln“ müssen. Stundenlang hätten Menschen in ihren eigenen Ausscheidungen sitzen müssen. Mehrere Behördenvertreter bewerteten die Situation im Mai 2020 als „Gefahr für Leib und Leben“ – auch die Bundeswehr, die mit 45 Soldaten aushalf, weil das Heim die Bewohner während des Corona-Ausbruchs nicht mehr versorgen konnte.

17 Todesfälle werden geprüft

Seit Mai 2020 ermittelt die Staatsanwaltschaft München II gegen die ehemalige Heimleiterin der Seniorenresidenz Schliersee. Inzwischen wurden die Ermittlungen auf drei weitere Beschuldigte ausgeweitet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen verschiedene Körperverletzungsdelikte vor – bei 88 Bewohnern. Außerdem laufen nach Informationen des Bayerischen Rundfunks 17 Todesermittlungsverfahren. Die Ermittler überprüfen unter anderem, ob die Bewohner an Unterernährung gestorben sind. Zwei Verstorbene wurden exhumiert.

Heimaufsicht ist vielen Beschwerden nicht nachgegangen

In den vergangenen Jahren hatten sich zahlreiche Pflegekräfte und Angehörige bei der zuständigen Heimaufsicht im Landratsamt Miesbach gemeldet und über Missstände im Heim berichtet. Allerdings zeigen BR-Recherchen: Die „Fachstelle für Behinderten- und Pflegeinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht“ nahm nicht alle Beschwerden über die Seniorenresidenz Schliersee auf und ging ihnen zum Teil nicht nach. Das räumt der zuständige CSU-Landrat Olaf von Löwis im BR-Interview ein. Ende Februar durchsuchte die Staatsanwaltschaft nach BR-Informationen das Landratsamt Miesbach zum zweiten Mal, außerdem fanden Hausdurchsuchungen bei den vier Beschuldigten statt. Drei sind laut Staatsanwaltschaft ehemalige oder aktuelle Mitarbeiter der Seniorenresidenz Schliersee. Die Kriminalpolizei hat bisher etwa 150 Zeugen befragt. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Gesundheitsamts sagte dem BR: „Ich verstehe nicht, wie so ein Heim in Deutschland überhaupt existieren darf.“

Landrat entschied sich gegen Heimschließung

Ende Mai 2020 war alles dafür vorbereitet, die Seniorenresidenz Schliersee wegen der massiven Pflege- und Hygienemängel zu schließen. Doch Landrat von Löwis entschied sich lediglich für einen Aufnahmestopp. Bis heute ist das Heim offen. Im BR-Interview sagt er, er bedaure das, habe aber kein juristisches Instrument, das Heim zu schließen. Dafür werde das Heim seit seinem Amtsantritt im Mai 2020 engmaschig überwacht. Der Verwaltungsrechtler Professor Bernd Hartmann von der Universität Osnabrück sieht das anders: Er erklärt im BR-Interview, hier sei eine Stufenfolge zu beachten: Beraten, Ermahnen, Anordnen und wenn die Mängel trotzdem nicht beseitigt würden, müsse man schließen.

Heimbetreiber weist Vorwürfe zurück

Betreiber der Seniorenresidenz Schliersee ist seit Mai 2019 das italienische Unternehmen Sereni Orizzonti. Nach BR-Informationen ermitteln Staatsanwaltschaften in Deutschland, Spanien und Italien zu Heimen dieses Betreibers. Der Ex-Manager Siro Bona war bis Sommer 2020 verantwortlich für die Seniorenresidenz Schliersee. Inzwischen hat er sich mit seinem ehemaligen Arbeitgeber überworfen. Er führt die Missstände unter anderem auf einen extremen Sparkurs zurück.
Das Unternehmen Sereni Orizzonti bestreitet, an Qualität und Pflege zu sparen. Im BR-Interview betont der Pressesprecher, Vittorio Pezzuto, die Heimaufsicht habe die Seniorenresidenz Schliersee schließlich nicht geschlossen: „Das ist ein Zeichen dafür, dass wir alle Standards einhalten.“ Doch eine Mängelliste der Heimaufsicht vom Januar 2021 füllt 18 Seiten, unter anderem steht darin, dass Bewohner falsche Medikamente erhalten und noch immer unterernährt sind.

Insider vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) bezeichnen die Seniorenresidenz Schliersee als „krassen Fall“ – allerdings gebe es in Bayern mehrere Heime, in denen vergleichbare Pflegemängel herrschten. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft laufen noch. Ob es zu einem Prozess kommen wird, ist offen. Bis dahin gilt die Unschuldsvermutung.

Quelle: BR-Recherche